„Wilde Kerle in der Kita und in der Grundschule“

Peronen - AK Wilde Kerle Bild RichardREGION – Vortag am Dienstag, 23. September in Weyerbusch Sonnenhof ab 19:30 Uhr –  „Wilde Kerle in der Kita und in der Grundschule“: Warum Jungen in der Kita / Grundschule „auffällig“ werden und wie Erzieher/innen und Lehrer/innen als emotionale Bezugspersonen und Ko-Konstrukteur/innen die Persönlichkeitsentwicklung von Jungen professionell und geschlechtsbewusst begleiten und stärken können? – AK - Wilde KerleUnbenanntDie Persönlichkeitsentwicklung von Männern und Frauen – das Selbstwertgefühl, das Selbstbild und die soziale Rolle (Bedeutung für andere / Partizipation) – wird in ihren Grundstrukturen in den ersten zehnten Lebensjahren entwickelt. Die emotionale Abhängigkeit von den Bindungspersonen Mutter und Vater in der Familie, von den Erzieher/innen und Lehrer/innen als Bezugspersonen in der Kindertagesstätte und Grundschule bildet die Grundlage der psycho-sozialen Entwicklung der Jungen und Mädchen.

Von dieser entwicklungswissenschaftlichen Grundeinsicht aus sollen in einem ersten Gang die aktuellen Befunde zur „Lage der Jungen“ in Familie, Kita und Schule analysiert und bewertet werden. Die Sozialisations- und Bildungsforschungen (IGLU im Grundschulbereich und PISA im Sekundarbereich) dokumentieren seit 20 Jahren: Während die Mädchen ständig ihre Leistungsbilanz steigern, stagnieren die Leistungen der Jungen. Mit 70 Prozent ist der Anteil der Jungen in Haupt-, Sonder- und Förderschulen sehr hoch. Im Elementarbereich sind „auffällige Kinder“ meist Jungs. Insbesondere bei Sprachtests erzielen die Mädchen signifikant bessere Ergebnisse als die Jungen, und Mädchen zeigen höhere Kommunikationskompetenzen.

Der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann plädiert für eine gezielte Jungenförderung: „Schon bei den Sechs- bis Elfjährigen fanden sich große Unterschiede bei den Bildungszielen. Die Mädchen wollen deutlich häufiger als die Jungen eine anspruchsvolle Bildungslaufbahn am Gymnasium durchlaufen. Sie fallen außerdem durch ein vielfältiges Freizeitverhalten auf, bei dem die Beschäftigung mit elektronischen Medien, Handarbeit, Tanzen, Sport mit Musizieren und Basteln kombiniert wird. Bei den Jungs dominiert hingegen die passive Freizeitbeschäftigung mit einer Fixierung auf die elektronischen Medien, das heißt, sie trainieren übermäßig stark ihren Seh- und Hörsinn, vernachlässigen aber extrem alle anderen Sinnesbereiche“.

In dem von Klaus Hurrelmann und Tanjev Schultz herausgegebenen Band „Jungen als Bildungsverlierer“ (2012) konstatieren die Herausgeber eine „allgemeine Verunsicherung der männlichen Geschlechtsrolle“ (a.a.O., S. 5) und weisen darauf hin: „Diese wiederum wird von einigen Pädagogen auf den hohen Anteil weiblicher Fachkräfte in Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Grundschulen zurückgeführt.“ (ebd.)

Die Shell-Studien von 2002 bis 2006 bestätigen, wie stark die Mädchen auf der Überholspur im Bildungssektor sind: „Sie bleiben deutlich weniger sitzen als die Jungen, haben erheblich weniger Nachhilfeunterricht und sind motivierter, sich gute Abschlüsse zu verschaffen“.

Vor diesem empirischen Sozialisationshintergrund geht der Vortrag „Wilde Kerle in der Kita und Grundschule“ von der entwicklungspsychologischen Erkenntnis der geschlechtsbezogenen Identitätsentwicklung von Jungen und Mädchen aus. Die Identifizierung der primären Geschlechtsorgane leitet das Rollenlernen der Jungen und Mädchen. In ihrer Identitäts- und Rollenentwicklung orientieren sich ab dem dritten Lebensjahr die Mädchen an der Mutter und den Erzieherinnen, während die Jungen sich in der Familie an ihrem Vater (soweit dieser präsent ist) orientieren und in der Regel im Kindergarten kein soziales Model für den Aufbau einer männlichen Geschlechtsrolle erleben. Vor diesem, aus Sicht der Jungen ambivalenten und defizitären sozilisatorischen Kontext werden im Vortrag folgende Konflikt- und Problemlagen geschlechtsbewusst analysiert und erzieherisch kommentiert.

„Defizite“ der Jungen: Aggressivität als Grundemotion, emotionale Selbstregulierung, Kognitive Verhaltenssteuerung, Hilfen zu emotionalen Regulierung, Modelle sozialen Handelns, Respekt: Würde, Beschämung: identitätstheoretisch und interkulturell

Die Stigmatisierung und Beschämung von Jungen im Kitaalltag vollzieht sich unbewusst in den emotionalen Bewertungen der Jungen: „Der ist aggressiv“, Der schlägt“, „Der streitet sich dauernd“, „Der ist unruhig“, „Der spielt sich wie ein Pascha auf“, „Der ist ein Tyrann“.

Im Vortrag werden diese Kommentare und Bewertungen der Erzieher/innen aus geschlechtssensibler, vorurteilsbewusster und interkultureller Perspektive analysiert und bewertet. Auf der Ebene der professionellen, geschlechtsbewussten erzieherischen Beziehungskompetenz werden folgende Aufgaben einer geschlechtsbewussten Entwicklungsbegleitung in der Kita erörtert: wie können Erzieher/innen nichtwertend erziehen, wenn Jungen eigensinnig und emotional handeln? Wie deuten Erzieher/innen die aggressiven Handlungen von Jungen und Mädchen und wie kommunizieren sie in Konfliktsituationen? Wie bestärken Erzieher/innen die Jungen in ihrer sozialen Kompetenzentwicklung? Auf der Ebene des didaktischen Handelns fokussiert der Vortrag die basalen motorischen und körperlichen Entwicklungs- und Lernebenen der Jungen. Wie können Jungen im Kitaalltag ihr Bewegungsbedürfnis befriedigen? Wie eröffnen die Erzieher/innen den Jungen haptisch-gestalterische Arbeits- und Spielansätze? Welchen Stellenwert haben naturbezogene Spiel- und Erlebnisansätze?

Das Leitziel des Vortrags ist: Die Erzieher/innen sollen für die möglichen Diskriminierungen, Beschämungen und Entwicklungsbarrieren von Jungen im Kitaalltag sensibilisiert und zur geschlechtsbewussten Selbstreflexion ihres erzieherischen Handeln angeleitet und für eine nichtwertenden dialogische Kommunikationskompetenz sensibilisiert werden. In didaktischer Perspektive sollen sie für die basalen motorischen und körperlichen Entwicklungsbedürfnisse und -ebenen der Jungen aktiviert werden. In präventiver Sicht zielt der Vortrag darauf, die Erzieher/innen für die sozialisatorischen, genderspezifischen und persönlichkeitsprägenden Dimensionen ihres alltäglichen erzieherischen Handelns zu sensibilisieren und für den Erwerb professioneller Beziehungskompetenzen und dialogischer Kommunikationskompetenzen zu aktivieren.

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