Unter sich bleiben heißt, vorhandene Potentiale nicht genügend ausschöpfen

Deutschland, das Land der Dichter und Denker, das Qualitätssiegel „Made in Germany“, das Land mit vielen hellen Köpfen und innovativen Produkten. Ein Land, das „human capital“ nach Kräften fördert, um zukunftsfähig und weiterhin an der Spitze zu stehen. Das alles ein Klischee? Fakt ist, dass die Bevölkerung schrumpft und immer mehr Fachkräfte fehlen. Qualifizierte und Hochqualifizierte werden rar und müssen auf dem Weltmarkt gesucht werden. Deutschland steht mittlerweile in Konkurrenz zu vielen anderen Industrieländern und zunehmend reift die Erkenntnis, dass etwas getan werden muss, um qualifizierte Arbeitskräfte für das Land zu gewinnen. Denn auch andere Länder werben um sie und die Menschen gehen dorthin, wo sie sich angenommen fühlen und wohlfühlen können. Was kann und was muss getan werden? Diesen Fragen gingen Expertinnen und Experten auf einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Fachtagung in Frankfurt nach.
Eine Willkommenskultur müsse geschaffen werden, damit mehr gut qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen, rufen daher Firmen und Politik mittlerweile unisono. Betrifft diese Offensive nur Neu-Zuwanderer und was ist damit gemeint? Was ist mit den Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund, die seit Jahren oder bereits mehreren Generationen in Deutschland leben? Gilt dies nicht auch für sie? Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, der Integrationsbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz, Miguel Vicente und weitere Experten aus den Handlungsfeldern Arbeit, Wohnen und Ehrenamt stellten sich dieser Thematik und diskutierten mit den kommunalen Vertretern der Migrationsbeiräte, Integrationsbeauftragten und Fachdiensten.
Die Bundesbeauftragte Lüders berichtete von zahlreichen dokumentierten Diskriminierungstatbeständen im Bereich Wohnen und Arbeiten, in denen nachweislich und signifikant häufig Menschen mit ausländischen Namen kurzerhand ohne Berücksichtigung der Qualifikation aussortiert wurden. Sie warb für ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren, mit dem andere Länder gute Erfahrungen gemacht haben, damit Bewerber und Personalchefs miteinander ins Gespräch kommen können, wenn die Qualifikation dem Anforderungsprofil entspricht. Willkommenskultur heiße, diese langlebigen Klischees von Migrantinnen und Migranten als Problemfällen mit unzureichendem Sprach- und Bildungsvermögen endlich zu überwinden. Die Realität sei vielfältig und eine Pauschalisierung schade Deutschland und verhindere, die (auch für die Wirtschaft wichtigen und überlebensnotwendigen) Potentiale anzuerkennen, war das Resümee aller Expertinnen und Experten. Mut machte der Bericht des Verbandes der Wohnungswirtschaft von Rheinland-Pfalz/Hessen, die aktiv die gute Nachbarschaft in den Wohnquartieren fördern und die auch in den Unternehmen Menschen mit Migrationshintergrund einsetzen. Dieses Vorgehen der interkulturellen Öffnung sei auch anderen Unternehmen zu empfehlen, um Vorurteile abzubauen. Auch Orhan Bekyigit, Fachberater beim Deutschen Feuerwehrverband berichtete über das aktive Zugehen seines Verbandes gezielt auf Menschen mit Migrationshintergrund. Denn das bestens organisierte freiwillige Feuerwehrwesen ist in vielen Ländern, übrigens auch in manchen europäischen Ländern, vielfach unbekannt. Es helfe Menschenleben zu retten, wenn auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund für eine aktive Mitarbeit gewonnen werden können, so Orhan Bekyigit, der auch nach der verheerenden Brandkatastrophe mit acht Todesopfern im Jahr 2008 in Ludwigshafen zur Seite stand. „Wenn die Menschen aneinander vorbei reden, kann dies zu Aggressionen gegen Einsatzkräfte oder Streit um Einsatzabläufe führen“, warnte er.
„Die Expertinnen und Experten haben die vielfach anzutreffenden Glaubenssätze über „Ausländer“ bzw. Menschen mit Migrationshintergrund teils humorvoll und satirisch bloßgelegt. Leider sind diese oft gesellschaftliche Realität und nicht nur im Bereich Arbeit, Wohnen und Ehrenamt besteht Bedarf, hier die eigene Haltung kritisch zu überdenken und neue Wege auszuprobieren,“ sind Andrea Oosterdyk, Integrationsbeauftragte des Landkreises Neuwied und Dilorom Jacka, Vorsitzende des Beirates für Migration und Integration des Landkreises Neuwied überzeugt.

(v.l.) Dilorom Jacka, Orhan Bekyigit, Andrea Oosterdyk und Landesbeauftragter Miguel Vicente