WEYERBUSCH – Unterwegs mit August Sander – Hanns-Josef Ortheil Lesung im Gasthof zur Post
Veröffentlicht am 19. Juni 2024 von wwa
WEYERBUSCH – Unterwegs mit August Sander – Hanns-Josef Ortheil Lesung im Gasthof zur Post
Viele Besucher waren am Nachmittag zu einer zweiteiligen Veranstaltung gekommen, die sich aus besonderen Perspektiven dem weltberühmten Westerwälder Fotografen August Sander widmete. Einmal aus der Sicht des Wanderers, der sich mit August Sander auf den Weg begab, um eine kleine Strecke des vom brodverein e.V. projektierten Sander-Weges kennenzulernen, zum anderen aus der Sicht des Autors Hanns-Josef Ortheil, der in seinem 2023 erschienenen Buch „Kunstmomente“ dem Fotografen viel Raum widmete.
Die 50 Wanderer fanden sich am „Haus für die Kunst“ in Hasselbach ein, das gerade von einer munteren Kinderschar verlassen wurde, die hier über mehrere Monate an einem Kunstvermittlungsprojekt, geleitet von Laura und Janek Bernstetter, teilnehmen. In dem Gebäude sind Landschaftsfotografien zu sehen, die überwiegend in Kuchhausen, dem letzten Wirkungsort Sanders und im Irsetal entstanden. Von hier ging die Führung weiter zum „Haus für August Sander“, entworfen vom Südtiroler Architekten Hans-Peter Demetz. Nicht nur die Auswahl der Portrait-Fotos beeindruckte, sondern auch die besondere Architektur dieses Kleinods. Auf dem Weg durch einen kleinen Teil der Skulpturenlandschaft >im Tal< wies Kim Wortelkamp auf Arbeiten der Künstler Krimhild Becker, Marin Kasimir und Bruno Walpoth hin, die sich ebenfalls, auf ihre individuelle Weise, mit dem Portrait beschäftigen.
Bei gutem Wetter folgte man der zukünftigen Route des August Sander-Weges nach Weyerbusch in den Gasthof „Zur Post“, wo man nach einer Erfrischung eine weitere Sander-Ausstellung sah mit Portraitfotos, die in den Orten entlang des konzipierten Weges entstanden.
Um 17.30 Uhr begann die Lesung. Kim Wortelkamp begrüßte im Namen des brodvereins die zahlreichen Besucher. Eingebunden in das WIR DORF Stadt-Land-Fluss-Festival kamen auch viele Teilnehmer aus dem Raum Windeck/Sieg. Die weiteste Anreise hatten Gäste aus Lörrach und Holzminden auf sich genommen. Dem Gastgeber war es eine große Freude, Michael Au, Referent für Literatur und Theater aus dem Mainzer Kulturministerium, zu begrüßen.
Die wunderbar lebendige Kneipenatmosphäre im voll besetzten Gastraum, an den langen Holztischen und bis an die Eingangstür dazugestellten Stühlen, hatte etwas rustikal Festliches und schien Hanns-Josef Ortheil heimatlich zu beflügeln. Er saß auf einem Barhocker am Tresen, nahm gelegentlich einen Schluck Bier mit „Prost“ Richtung Publikum. Die Akustik war trotz der lebhaften und heiteren Fülle sehr gut.
In Ortheils Lesung aus den fünf Sander-Kapiteln des Buches wurde deutlich, dass sich da zwei Westerwälder gefunden haben, für die die „Lichtspur“ des Sehens und Festhaltens den Charakter des Zeugnisses, der Bezeugung des Lebens von Menschen, Landschaften hat. Also geht es nicht nur um die Kunst, sondern auch um das Bezeugen von Heimat. Die heutige Bedeutung der Sander-Fotos mag zugleich eine Sehhilfe in die Geschichte sein. Das Sehen des Fotografen stellt sich, wie das Beschreiben des Schriftstellers, zugleich als Akt der Annäherung und der Distanzierung durch die Linse, Fixierung durch das Arrangement, dar.
Besonders am Beispiel der drei Westerwälder Jungbauern im Sonntagsstaat, stellte Ortheil nicht ohne Augenzwinkern das kecke und Ironische, Selbstbewusste und Distanzierte des Westerwälder Wesens heraus, das oft hinter den starren Arrangements der frühen Fotografie nicht leicht zu erkennen ist: „das Changieren….. dieser Meisterfotografie zwischen Beharren und Aufbruch, zwischen Offenbarung und Geheimnis, zwischen Gegenwart und Zukunft …. macht sie so rätselhaft und ‚eigen‘, dass keiner… dieses Foto …. Wieder vergisst.“ (Kunstmomente S. 66)
Aber auch im Foto des alten August Sander (c. 84-jährig, 1960 von Immogen Cummingham) in der Tür seines Hauses in Kuchhausen, spiegeln sich zugleich dörfliche Heimat und Weltbürgertum, Westerwälder Schalk und Altersernst, Beiläufigkeit und souveränes Selbstbewusstsein. Amüsiert wies Hanns-Josef Ortheil auf die zu hoch gezogenen, zu kurzen Hosen des eleganten Anzugs von August Sander hin: der mittlerweile berühmte Weltbürger neben den dörflichen Accessoires: Reisigbesen, krummer Stock.
So gilt für die mit Hingabe gehörte und begeistert aufgenommene Lesung im Gasthof zur Post insgesamt, was er über sich selbst (im Spiegel seines Debutromans „Fermer“, 1979 sagte, dass die Fotos von August Sander für ihn „Heimkehr in die Landschaften jenes von mir so verehrten, einzigartigen Menschen, der mir den Westerwald wiedergeschenkt hat.“ (S. 70)
Dank der besonderen Räumlichkeiten im Wirtshaus war die sonstige Distanz zwischen Autor und Publikum nicht zu spüren. Das Beisammensein klang aus bei frisch Gezapftem und warmer Suppe. Da alles ehrenamtlich geleistet wurde, konnte dem brodverein e.V. eine beträchtliche Summe übergeben werden. Alle waren sich einig, dass diese gelungene Veranstaltung eine Wiederholung verdient. Fotos: Jürgen Greis